Quelle: furche.at; Übersetzung auf Bosnisch: miruhbosne.com

Fritz-Csoklich-Demokratiepreis 2023: „Wer hätte je eindringlicher gesprochen als Dževad Karahasan!“

Verfasst von: Karl-Markus Gauß

Dževad Karahasan ist oft als die Stimme Bosniens bezeichnet worden. Als er am 19. Mai in Graz starb, war ich gerade in seinem Land unterwegs, auf einer Lese- und Vortragsreise, von der wir geplant hatten, dass wir sie gemeinsam bestreiten würden. Was das heißt, wenn die Stimme eines Landes, einer Nationalität, Volksgruppe, wie immer wir es nennen wollen, verstummt, erfuhr ich in jenen Tagen, denn wo ich auch hinkam, begegnete ich Menschen, die um ihn trauerten, und bei diesen handelte es sich keineswegs nur um Büchermenschen, die sich von Berufs wegen oder aus Leidenschaft der Literatur verschrieben hatten. Nein, da war der vierschrötige Taxifahrer in Sarajevo, der mit den Tränen rang, als unser flüchtiges Gespräch auf Karahasan kam, die Frühstückskellnerin im Hotel, die ihren Dienst bisher wortkarg versehen hatte und herzergreifend auf mich einzureden begann, kaum dass sie gehört hatte, ich wäre einer, der ihren Karahasan gekannt habe. Sie alle sprachen von ihm als einem der Ihren, von jenem großen Landsmann, der Europa von „uns“, von uns Bosniern erzählt und der Welt gesagt habe, wer wir sind, was wir erlitten haben und wofür wir einstehen. Selbst wenn manche von ihnen seine Bücher wohl gar nicht gelesen hatten, wussten sie doch, dass er auch für sie geschrieben hat. Ja, er war ihre Stimme, sie selbst haben ihn als diese anerkannt und waren dankbar, sie zu haben.

Er war auch für uns im Westen die Stimme Bosniens, mehr als jeder andere Autor der Vergangenheit und von heute, da bosnische Literatur von Rang in den USA, in Deutschland, in vielen Ländern und, natürlich, in Bosnien und der Herzegowina selbst geschrieben wird. Kein anderer hat uns mit gleich viel Leidenschaft und Wissen, Phantasie und Empathie, mit solcher Gelehrsamkeit und diesem gelassenen Humor die Geschichte seines Landes vergegenwärtigt und uns Bosnien als europäische Versuchsstation, in der das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Lebensformen erprobt wird, so kunstvoll nähergebracht.

Die Stimme – wer hätte je eindringlicher gesprochen als Dževad Karahasan! Wenn er im kleinen Kreis oder vor großem Publikum auftrat, konnte ein jeder glauben, er spräche zu ihm persönlich, durfte eine jede den Eindruck gewinnen, er wende sich speziell an sie. Dies war keine geschickte Selbstinszenierung vor Publikum, wer je das Vergnügen hatte, ein privates Gespräch mit ihm zu führen, weiß, dass er es dabei gerade so hielt. Er fasste sein Gegenüber scharf ins Auge, gestikulierte beschwörend und richtete seine Worte mit oft leiser Stimme an den Gesprächspartner, dessen Einwände er gegebenenfalls aufgriff, weiterspann, seine eigenen Thesen damit modifizierend. Wäre es nicht stets interessant gewesen, was er erzählte, man würde ihm doch zugehört haben, weil es hinreißend war, wie er erzählte, insistierend, aber nicht rechthaberisch. Diese, seine hörbare Stimme ist erloschen, die Stimme, die aus seinen Büchern spricht, wird gehört werden, solange es Menschen gibt, die wissen, dass die wahre Geschichte der Menschen in der Literatur erzählt wird.

 

Gerne wurde und wird über Karahasan gesagt, er sei ein Grenzgänger zwischen der islamischen und der christlichen Welt, zwischen Orient und Okzident, und das ist auch völlig richtig, zumal wenn man hinzufügt, dass dem Muslim Karahasan das katholische wie das orthodoxe Christentum vertraut und wichtig waren und er immer wieder betont hat, dass Sarajevo ohne das Judentum der aus Spanien geflohenen Sefarden nicht jene Stadt geworden wäre, die er liebte und für ein Modell der Welt selbst hielt. Im „Tagebuch der Übersiedlung“ heißt es: „Alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo…Wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin, die alle Geschehnisse enthält, alles, was ein Mensch erleben kann, alle Dinge und alle Erscheinungen der Welt…so enthält Sarajevo alles, was die Welt westlich von Indien konstituiert.“

Alles, was in der Welt möglich ist: das enthält eine Utopie und eine Dystopie, ein Versprechen, aber auch eine Warnung. Was in der Welt an politische Verbrechen, militärischen Schandtaten möglich ist, das hat sich gerade in der Belagerung Sarajevos, im Krieg in Bosnien gezeigt. Karahasan hat dieser Verheißung und diesen Verbrechen sein literarisches Werk gewidmet. An der Schnittstelle der Kulturen aufgewachsen, war er tatsächlich beides zugleich, ein Märchenerzähler, der aus dem Schatz orientalischer Mythen und Legenden schöpft, und ein Intellektueller, der sich am westlichen Skeptizismus geschult hat. Das Gemeinsame beider Sichtweisen auf die eine Welt, die wir haben, entdeckte er paradoxerweise gerade in ihren Unterschieden, und wie er uns davon unterrichtet, das ist, als hätte sich Robert Musil darangemacht, mit hellwachem Verstand von Tausendundeiner Nacht zu erzählen.

In seinem weitgespannten Werk stand Karahasan eine Vielzahl von Genres zu Gebote: der historische Roman, die Gespenster- und Geistergeschichte, Traktat und Parabel, Brief und Tagebuch, der Ideenroman, selbst in das entfernte Gelände des Krimis haben sich einige Wurzeln seines Werks verzweigt. In fast allen Büchern kommt aber der Liebe und der Freundschaft eine besondere Rolle zu.

In „Schahrijars Ring“ sind es vor dem Hintergrund des Kriegs Arzra und Faruk, die so verschieden sind, dass sie einander verfallen müssen. Aber sie finden den Weg nicht, miteinander glücklich zu werden, und so löst Azra die Beziehung und Faruk verlässt Sarajevo und verschwindet im Hinterland des Krieges. Kaum ist der Geliebte weg, beginnt sie sich nach ihm zu sehnen, erst jetzt, da er nicht mehr da ist, begreift sie, wie sehr sie ihn liebt.

In den „Marindvorer Fragmenten“, in denen er berichtet, wie der Krieg in Sarajevo sein Wohnviertel Marindvor erreichte, hält Karahasan ebendiese Veränderung auch an sich selber fest. Eines Tages wird das Haus, in dem er mit seiner Frau Dragana wohnt, beschossen, die Platanen im Hof zerbersten, die Raketen reißen Löcher in die Häuserfront, das Glas der Fenster ist zu Bruch gegangen. Und staunend bemerkt Karahasan: „Bisher habe ich mein Haus wiedererkannt, doch nun sehe ich es; bis jetzt habe ich darin gewohnt, doch nun fühle und liebe ich es; das bedeutet, dass ich mich von ihm verabschiede, das bedeutet, dass es zu meiner Erinnerung wird, weil wir den vollen Wert von allem, dem wir begegnet sind, erst dann erhalten, wenn es aus dieser Welt ins Gedächtnis übersiedelt.“ Man beachte bitte, dass Karahasan „sehen“ und „lieben“ synonym verwendet, fast möchte ich sagen, er wollte uns daran erinnern, dass die Liebe nicht blind macht, wie es die Floskel behauptet, sondern sehend, sie öffnet unsere Augen für die Welt, die Menschen, für alles, was ist und uns genommen werden kann, was wir selbst verlieren, verspielen, zerstören können. Auf meine Frage, wie sich der Untergang seiner Stadt hätte vermeiden lassen, hat Dzevad einmal geantwortet: „Wir alle hätten sie mehr lieben müssen.“

In seinem letzten Roman, den er wie im täglichen Kampf gegen seine Krankheit geschrieben und mit bewundernswerter Energie fertiggestellt hat, „Einüben ins Schweben“, wird schon auf der zweiten Seite von Amt und Würde des Schriftstellers gesagt: „Nur die größten können aus den anderen alles herausholen und ihnen dabei helfen, sich zu übertreffen.“ Und im „Tagebuch der Übersiedlung“ hat Karahasan ein für allemal festgehalten: „Eine der Grundfunktionen der Kunst ist, die Menschen vor der Gleichgültigkeit zu schützen, und der Mensch ist am Leben, so lange er nicht gleichgültig ist.“ Beides zusammen ergibt eine Poetik und eine Ethik des Schreibens: Die Literatur darf sich nicht davor scheuen, die Menschen zu fordern, denn nur, indem sie die Vereinfachung als intellektuelles, ästhetisches, moralisches und politisches Grundübel scheut, kann sie diese befähigen, über ihre Ressentiments hinauszuwachsen und der Gleichgültigkeit als Routine der Menschenverachtung zu widerstehen.

Dzevad Karahasan war die Stimme Bosniens, und seine Stimme im Chor der europäischen Literatur ist unverwechselbar. Ich muss hier, wiewohl im Vollbesitz meiner schwachen patriotischen Kräfte, darauf verzichten, über die zahlreichen österreichischen Eigenheiten im europäischen Werk des bosnischen Autors zu sprechen, denn einmal muss auch eine lange Würdigung an ihr Ende kommen. So viel gilt: Dzevad Karahasan gebührte jeder Literaturpreis der Welt, aber auch dieser Preis, der nach einem österreichischen Publizisten, Fritz Csoklich, benannt ist und die „Demokratie“ im Namen führt, sitzt ihm wie angegossen.

Wie gerne wäre ich heute im Publikum gesessen, das Dzevad mit einer weit ausholenden und pointierten, mit seiner gedankenreichen und selbstironischen Dankesrede gewiss bezaubert hätte. Im weiten spirituellen Resonanzraum seines Werks und seines Denkens sind die Toten, mit ihren Forderungen, die sie an uns stellen, und mit dem Beistand, den sie uns geben können, stetig präsent. Und so ist es, liebe Dragana, hier und heute auch mit ihm.